Corpus of Electronic Texts Edition
Briefe aus Irland nach Sachsen (Author: Carl Gottlob Küttner)

Brief 2

Mittwochs, den 16. Jun.

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Ich glaube, ich habe Ihnen niemals ein Wort von der hiesigen Hauptkirche St. Patrik geschrieben!


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Man hat eigentlich zwey Hauptkirchen, diese und die Christ-Church. St. Patrik ist die Erzbischöffliche, und die, in der Swift Dekan (Dean) war. In der That läßt sich wenig davon sagen, denn es ist ein altes, naktes, garstiges Gebäude, das sich durch nichts empfiehlt. Indessen besehen alle Fremde dieses Gebäude, wegen einiger Denkmäler, unter denen das dem hiesigen Erzbischoff Smith errichtete, das schönste ist. Swifts SwiftsDenkmal ist nicht viel mehr, als eine marmorne Tafel mit seiner Büste über derselben. Das berühmteste ist ohnstreitig das Denkmal, das Swift seiner Stella errichtete, ob es schon nichts weiter ist, als eine marmorne Tafel mit ohngefähr folgender Inschrift: ‘Hier ruht der Körper der Mrs. Johnson, besser der Welt bekannt unter dem Namen Stella, unter welchem der Dekan Swift in seinen Werken sie anführt. Sie starb etc. etc.’ und nun folgen ein paar Zeilen zu ihrem Lobe.

Das Dunkel, in das die Geschichte dieses Frauenzimmers zum Theil gehüllt ist, hat hier zu Dublin aufs neue meine Neugierde erregt, wie denn der Mensch immer das zu wissen am begierigsten ist, was man ihm nur halb zeigt. Allein ich habe, alles Nachfragens ungeachtet, nichts weiter erfahren können, als was ohngefähr in Swifts Leben von Johnson32 steht. Das, wovon Johnson nicht das Geringste erwähnt, ist die Sage,


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die zu Swift's Lebzeiten ging, und welche hier noch von vielen geglaubt wird, nämlich daß er und Stella natürliche Kinder des Sir William Temple, und also Geschwister waren. Hieraus ließe sich nun manches in Swift's Geschichte erklären, z. E. daß man nie wußte, aus was für einem Lande er war, indem ihn jedermann für einen Irländer erklärte, er selbst aber sich für einen Engländer ausgab. Er sagte, er sey zu Leicester geboren, sein Vater sey ein Prediger nicht weit von dieser Stadt gewesen, und seine Mutter eine nahe Verwandte des Sir William. Sir Williams ausserordentliche Anhänglichkeit an Swift ließe sich auch daraus erklären. Stella war, wie man allgemein sagte, die Tochter von Sir Williams Haushofmeister (Stuart). Allein was ihr Familienname, oder ihr Mann Johnson war, weiß kein Mensch, und überhaupt weiß man nichts von ihrer Ehe. Swift's sonderbares Betragen gegen Stella ließe sich eben dadurch ertragen, zumal wenn man annimmt, daß er nie mit ihr verheurathet war, wie viele Leute hier glauben. Dr. Johnson sagt, ein Bischoff habe sie heimlich zusammen gegeben, und habe es, nach Swift's Tode, einem seiner Freunde erzählt. Davon, daß Swift wahnsinnig geworden, weil er erfahren. daß Stella seine Schwester sey, sagt Johnson kein Wort, und hält es also vermuthlich für eine Fabel.


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Ich habe öfters von einem Denkmale gehört, das Swift einem seiner Bedienten errichtet, und fragte also darnach, als ich in der Kirche war, und da zeigte man mir eine kleine Tafel mit einer Inschrift, die in einem dunkeln Winkel neben einer der Thüren angemacht ist.33

Gleich neben der Kirche ist die Dekanwohnung (the deanery) und neben dieser der Erzbischöffliche


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Pallast, ein altes, unansehnliches, weitläufiges Gebäude, das nichts merkwürdiges hat, als angenehme, große Zimmer. Die Dekansstelle trägt jährlich 1000 Pfund.