Corpus of Electronic Texts Edition
Briefe aus Irland nach Sachsen (Author: Carl Gottlob Küttner)

Brief 21

C***, den 11. Sept.

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Diejenigen, welche glauben, daß die Engländer wenig aus Adel und alten Familien machen, irren sich gar sehr! Man weiß in diesem Lande eine Unterscheidungslinie zu ziehen, so gut wie in andern Ländern; nur ist sie in England nicht so scharf markirt, und wahres Verdienst kann leichter seinen Weg zwischen durch machen, als in andern Ländern, und der Gelehrte und Künstler werden geschätzt und geehrt, wenn auch


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ihr Name nicht in den Annalen des Königreichs zu finden ist. Nebstdem hat der Handel in England ein großes Ansehen gewonnen, und die Lehnsherren haben hier nicht die Macht über den gemeinen Mann, den sie auf dem festen Lande von Europa haben, wo das Feudalsystem noch immer mehr oder weniger sich erhält. Ein englischer Lehnsherr (Lord of the Manor) hat selten mehr Gewalt als die, die er durch Beziehung gewisser Einkünfte erhält.

In Irland hält man schon mehr auf Adel und alte Familien, und der Handel steht in weit geringerm Ansehen. In England treten oft jüngere Linien aus großen Häusern, und selbst jüngere Enkel der Grafen (Earls) in den Kaufmannsstand; in Irland wird dieses selten, oder gar nicht geschehen. Manche Familien maaßen sich hier den Ruhm eines ganz besondern Alterthums an.

Haben Sie niemals, lieber Freund, von den Milesischen Familien in Irland gehört? Diese behaupten von den alten Milesiern in Kleinasien herzustammen, welche als eine Colonie, viele hundert Jahre vor Christi Geburt, mit den Phöniziern nach Irland gekommen seyn sollen. Viele Familien, die mehrentheils ein O oder ein M (Mac) vor ihrem Namen haben, sind nun ziemlich gesunken, und haben, nachdem


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den mehresten, als Katholiken, die Peerwürde in den Revolutionen genommen wurde, wenig Credit mehr im Lande. Die O-Neil in Munster, und die O-Brien in Ulster23 waren besonders merkwürdig, und man hat mich versichert, daß es noch nicht funfzig Jahre ist, daß, wenn die Häupter dieser Familie einander trafen, sie sich so grüßten: ‘der große O-Neill zu Munster grüßt dich, großer O-Brien, zu Ulster.’

Bey Begräbnissen ist der Gebrauch der Klageweiber noch sehr gemein in Irland, besonders auf dem Lande, aber nie unter Standspersonen.

Die Irländer sind eben so verliebt in die Zeitungen und öffentlichen Blätter, als die Engländer. Jede ansehnliche Stadt hat ihre Zeitung, und in Dublin werden deren verschiedene gedruckt. Der Ire hält einen großen Theil aller dieser Zeitungen, und, nicht zufrieden damit, läßt er noch verschiedene der Englischen kommen, als die London Evening Post, den Craftsman, den London Advertiser u. a. Hier liegt beständig eine solche Menge von Zeitungen im Gesellschaftszimmer, daß ich so ziemlich alle Tage für ein Paar Stunden Arbeit gehabt hätte, wenn ich sie alle hätte lesen wollen. Ich kenne verschiedene Iren, die keine andere Lektüre kennen. Aus dem Gesellschaftszimmer kommen diese


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Zeitungen unter die ersten Bedienten, von diesen zu den Livreybedienten, und öfters hab ich, wenn ich in die Ställe ging, Kutscher, Reitknechte und Stalljungen damit beschäftigt gesehen.

Wahr ists, diese Zeitungen sind die vollkommensten, die in der Welt existiren. Auch ist dieses auf dem festen Lande bekannt, wohin eine große Menge derselben regelmäßig geschickt wird. Sie sind die vollkommenste Encyclopädie, die man sich nur denken kann. Alles, alles ohne Ausnahme findet einen Platz darinnen. Die Neuigkeiten der ganzen Welt, detaillierter, als irgendwo; alle Nationalgeschäfte, Heurathen, Geburten, Todesfälle, Ehescheidungen, neue Bücher und Kupferstiche, Erfindungen aller Art, Arzeneyen, Pommade, Puder, Modekrämereyen, Bankerute,24 Ankunft und Abgang der Schiffe, Räubereyen, Diebstäle, verlohrne und gefundene Sachen, gelehrte und andere Anekdoten, Lobreden, Pasquille,25 Ausfälle gegen Collegien und einzelne Personen, Bitten und Danksagungen, Altes und Neues — und — wenn würde ich fertig werden, alle die Artikel zu nennen, die in den Englischen und Irischen Zeitungen Platz finden.

Alle sind auf ungeheure Regalbögen, sehr enge gedruckt, und haben durchgehends vier,


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oft fünf Colonnen {Spalten} auf jeder Seite. Jedermann ließt sie, und jeder nimmt daraus, was ihm gefällt; doch werden sie häufig ganz gelesen. Die Freiheit, die darinnen herrscht, übersteigt alle Begriffe; die Impertinenz, mit der der König, die Minister, die Parlements-Glieder und alle Großen des Landes behandelt werden, ist unbeschreiblich. Dies amüsiert den gemeinen Mann, und — ist, wenn ich nicht sehr irre, die Hauptursache, warum die Zeitungen an vielen Orten des festen Landes so häufig gelesen werden.

Da diesen Sommer ein neues Parlement gemacht wurde, so war die ganze Nation in Bewegung. Ich könnte Ihnen Bögen vollschreiben, von dem, was ich bey der Gelegenheit gesehen, gehört und gelesen habe. Die Parlementsstellen tragen an sich selbst nichts ein, aber sie sind zu allem Nutze. So bald einer ins Unterhaus kommt, so ist er eine wichtige Person für das Land so wohl, als für den Hof; er hat Einfluß in unzählige Dinge, und kann für sich oder seine Familie eine Menge Dinge begehren, die der König zu vergeben hat: z. E. die einträglichsten Ämter im Lande. Ein Mann habe so viel Verdienst als er will; wenn er nicht im Parlemente sitzt, oder durch ein Parlementsmitglied unterstützt wird, so ist er für den Hof nur eine gleichgültige Person. Ein gewisser Lord wandte


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diesen Sommer alles an, seinen Bruder wieder zum Parlementsmitgliede einer Grafschaft zu machen, und es ging; ja er fand so gar Mittel, den Sohn dieses Bruders, der noch nicht zwanzig Jahre alt ist, gleichfalls ins Parlement zu bringen. Der Lord sitzt also als Peer und Haupt der Familie im Oberhause; sein Bruder im Unterhause, und hat zugleich ein Königliches Amt, das jährlich 2000 Pf. einbringt; der dritte Bruder sitzt als Bischoff im Oberhause, und hat jährlich 3000 Pf. Der Neffe, im Unterhause, wird nun bey Zeiten auch irgend ein Hofamt bekommen. Ein anderer Neffe ist ein Geistlicher, und erwartet Pfründen vom Bischoffe; und ein zweyter Neffe ist auch wieder für die Theologie bestimmt. Und das ist ohngefähr der Gang, den die Großen des Reichs zu nehmen suchen.

Sie sehen, lieber Freund, daß auf diese Art die Regierung Irlands im Grunde Aristokratisch ist, und daß das Volk blos als Mittel betrachtet wird. Ein jeder, der jährlich 40 Schillinge (2 Pfunde) Einkommen aus eigenen Grundgütern hat, ist ein Freeholder, und gibt seine Stimme zur Wahl der zwey Parlementsmitglieder für seine Grafschaft. Aber was ist das? Die Kleinen hängen von den Großen ab, und die Nation wird nicht durch das Parlement repräsentiert, sondern, wie ein Volunteer sagt, von


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einigen Großen, und von einer Menge von Bettlern. Auch fühlt die Nation das, und die Volunteers, die jezt zu Dungannon versammelt sind, verlangen, daß die Verfassung wegen der Parlementswahlen geändert werden solle. In England ists nicht viel anders, und der alte Lord Chatham (der berühmte Pitt) drang oft auf das, was jezt die Iren verlangen. Aber dabey findet der Hof seine Rechnung nicht. Birmingham, Manchester, und andere beträchtliche Städte, senden kein Mitglied zum Parlement, weil sie nicht existirten, als die Constitution gemacht wurde. Kleine, elende Städte hingegen, in denen manchmal kaum sechs oder acht Freeholder sind, und welche noch darzu von einer reichen Familie in dieser Grafschaft abhangen, senden zwey Glieder ins Haus. Und so gehts denn überall tout comme chés nous, und die Welt ist in gewissen Hauptsachen aller Orten die nämliche.

Ich muß Ihnen noch, bey der Gelegenheit, etwas von einer Mahlzeit erzählen, der ich beywohnte, und die mich nicht wenig interessirt hat. Wir waren 300 Personen an einem Tische, den ein Lord auf einem grünen Platze neben dem Hause hatte aufschlagen lassen. Es waren Volunteers aus seiner Grafschaft, die sichs da herrlich wohl seyn liessen, und die Freygebigkeit, die Güte, Menschlichkeit und Gemeinheit {den Gemeinsinn} des Lords


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bewunderten und lobten, der mit ihnen alle Gesundheiten trank, die Hände schüttelte, den Patriotismus der Volunteers lobte, und von der Prosperity of Ireland sprach. — Sie hatten unter anderem einen general-toast-master, den sie auf den Tisch stellten, und der der ganzen Gesellschaft die Gesundheiten angab. Mit einer ungeheuren Stimme schrie er jedesmal die Gesundheit aus, und schwengte dann den Hut in die Luft, so lange, bis die Gläser leer waren. Das Ganze ging sehr kriegerisch zu, denn diese Volunteers kamen alle unter den Waffen, mit ihrer Musik, und machten einige Manoeuvres vor und nach der Mahlzeit. Es waren darunter vierzig Mann zu Pferde, welche früher kamen, und die Infanterie mit dem gewöhnlichen Schwerdtgruße empfingen.