Corpus of Electronic Texts Edition
Briefe aus Irland nach Sachsen (Author: Carl Gottlob Küttner)

Brief 17

C***, den 2. Sept.

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Ich bedaure oft, daß ich nicht mehr Gelegenheit habe, Leute aus dem Mittel- und dem niedern Stande zu sehen. Unter diesen findet man immer am meisten Nationales; da hingegen die Höhern, und überhaupt alles, was gens du monde und gens de bonne compagnie genannt wird, in der ganzen Welt bis auf einen gewissen Grad einander gleicht. Erziehung und Gesellschaft modelt den Menschen nach einem gewissen Schnitt; seine rauhern, scharf markirten Seiten und Umrisse werden abgeschliffen, und das, was er Eigenes hat, verliert sich mehr oder weniger unter der Form. Und so hab ich noch an allen Orten Menschen gefunden, deren Gott ihr liebes, eigenes Selbst ist, und die ihre Selbstheit (Selfishness, Egoismus) mit äusserer Höflichkeit, Sanftmuth und Cultur verkleistern; überall Menschen, über welche äussere


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Anmuth, Willfährigkeit und feine Schmeicheley mehr vermag als triftige Gründe und wahres Verdienst; Menschen, die die Gesetze Gottes und der Natur eher verletzen, als die der Ehre, des Anstandes und des Hergebrachten; Menschen, die sich lieber durch ihre Leidenschaften und ihren Vortheil, als durch Vernunft und Billigkeit beherrschen lassen; Menschen, die dich mehr suchen, weil du ihnen gefällst, als weil es deine Tugenden verdienen; Menschen, die nicht handeln nach eigenen, überdachten Grundsätzen, sondern weil andere so handeln, und weil es Anstand und Hergebrachtheit so erfordern; Menschen, die Tugenden und gute Eigenschaften haben, ohne einen Werth darauf zu legen, und den Schein von andern {Tugenden} suchen, die sie nicht besitzen; Menschen endlich, die durchgehends mehr schwach als böse, mehr leichtsinnig als lasterhaft sind, und die das Gute thun, mehr aus Temperament, als aus Grundsätzen.

Es gibt hier, wie in allem, Ausnahmen; im Ganzen aber ist das Gemälde, glaub ich, nicht übertrieben.

Wenn ich nun diese Menschen gegen die hier in Irland halte, und wenn einiger auffallender Unterschied ist, so ist er wahrlich zum Vortheil dieser letztern. Ich habe hier unter den Blutsverwandten mehr Verbindung, Antheil und Liebe


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gefunden, als irgendwo. Dienstfertigkeit und ein gewisses, allgemeines Wohlwollen hab ich oft mit Vergnügen bemerkt. Die Ehen sind fast allgemein heilig, und unter Eheleuten hab ich so viel Freundschaft gesehen, als in irgend einem Lande. Wenn man den Lasterhaften nicht vermeidet, weil er zur guten Gesellschaft gehört, so weiß man ihn doch zu unterscheiden, und hin und wieder ist jemand herzhaft genug, laut davon zu sprechen. Und dies ist mehr, als ich, ceteris paribus, an vielen Orten gefunden habe.

Die Frauenzimmer zeigen im Ganzen eine Zurückhaltung gegen die Mannspersonen, die vielleicht den Annehmlichkeiten der Gesellschaft nachtheilig ist, und der allgemeine ton de galanterie, der von Frankreich aus einen Theil von Europa überschwemmt hat, hat hier noch wenig Progressen gemacht. Zwischen beiden Geschlechtern ist die Absonderungslinie vielleicht noch viel stärker markirt, als in England. Ich habe hier mehr als einmal gesehen, daß alle Frauenzimmer an einer Tafel nebeneinander saßen, und eben so auch die Mannspersonen. Das bunte Gemische, das die Gesellschaften nach französischem Tone auf dem festen Lande so angenehm macht; die Freiheit, mit der man sich an Frauenzimmer wendet, auch die man nicht kennt, und Unterhaltung bey ihnen findet; die Leichtigkeit, mit der man in


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alle Arten von Unterredung eintritt; gewisse Rechte, die Ton und Gewohnheit geben — alles das hab ich hier sehr wenig gesehen. Mannspersonen leben deswegen mehr mit einander unter sich, jagen, reiten, speisen mit einander, und haben also, natürlich nicht jene feine Politur, die der Mann durch das sanftere Geschlecht erhält, und die den Franzosen, wenn er kein Geck ist, in der Gesellschaft so liebenswürdig macht. Der Ire dispensirt sich von einer Menge kleiner Dienste, Zwang und Aufmerksamkeiten, zu denen man sich in gewissen Gesellschaften auf dem festen Lande gegen das Frauenzimmer für verbunden hält. Ich habe mehr als einmal gesehen, daß Frauenzimmer auf ihr Pferd stiegen, und Mannspersonen ganz ruhig dabey stunden, und einen Bedienten ganz ruhig das ganze Geschäfte machen ließen. Selten wird ein verheurathetes, und noch weit weniger ein unverheurathetes Frauenzimmer, den Arm einer Mannsperson annehmen, der nicht ein naher Verwandter ist. Mehr als einmal hab ich gesehen, daß die jungen Frauenzimmer nach dem Thee spatzieren gingen, und die Mannspersonen blieben ruhig bey einander, oder gingen auf die Fischerey, etc. etc.

Ein anderer Zwang, den die mehresten Frauenzimmer sich auflegen, fällt ins Lächerliche! Da auf den Tafeln nie Getränke steht, so muß


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ein jeder fordern was er jedesmal trinken will. Nun werden die Damen Wasser, Bier und Cider von den Bedienten fordern, so viel als sie trinken wollen; nicht leicht aber wird eine ein Glas Wein verlangen. Daher ist es eine besondere Pflicht der Mannspersonen, über Tische Achtung zu geben, und die Damen zu fragen, ob sie ein Glas Wein mit einem trinken wollen, welches denn fast nie ausgeschlagen wird. Und diese Pflicht liegt dem Herrn des Hauses nicht mehr ob, als jeder Mannsperson, die sich an der Tafel findet. So kann ich z.B. in einem ganz fremden Hause ein Frauenzimmer zum erstenmale sehen: und wenn ich bemerke, daß noch niemand ein Glas Wein mit ihr getrunken hat, so werd' ich es für Pflicht halten, es ihr anzubieten, und sie wird es als eine Höflichkeit annehmen, die ich ihr erzeige.

So frey als in Irland und England die Mannspersonen in ihren Gesprächen sind, so sehr sind sie auf ihrer Hut unter dem andern Geschlechte. Da wird niemand leicht sich ein Wort entfahren lassen, das im geringsten nach einer Unsittlichkeit, Unanständigkeit oder Zweydeutigkeit schmeckte — Nie wird sich ein Mann in Gesellschaft erlauben, einem Frauenzimmer von Stande die Hand zu küssen, wenn es auch seine nahe Verwandte ist. Nie wird sich jemand erlauben,


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vor Frauenzimmern auf eine leichtsinnige Art von Religion, Sitten und dergleichen zu sprechen, und selbst unter Mannspersonen hab ich es äusserst selten bemerkt. Dies ist mehr, als ich von vielen Gesellschaften, in denen ich gewesen bin, sagen kann.

Die Sprache der Gesellschaft ist seltener, als irgend eine, die ich noch kenne. Die vielen Worte und Redensarten von Höflichkeit, die in der französischen und deutschen Sprache, in gesitteten Gesellschaften herrschen, sind hier unbekannt, und man sucht im Reden so wohl als im Schreiben eine gewisse Kürze, eine gewisse Abgebrochenheit, die, in der französischen Sprache wenigstens, Unhöflichkeit sein würde. Selbst die Ausdrücke Your Lordship und Your Ladyship, die in englischen Romanen so häufig vorkommen, werden selten gebraucht. Alle Mannspersonen sind, wenn man sie anredet, Sir oder Mylord, und selbst die Lords werden manchmal blos durch Sir angeredet. Alle Frauenzimmer, mit und ohne Titel, verheurathet oder unverheurathet, sind in der Anrede Madam. Redet man von Frauenzimmern, die den Titel haben, so sagt man allemal, Mylady die und die; ihr aber in der Anrede den Titel Mylady zu geben, ist lächerlich und nur unter den Bedienten gewöhnlich.


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Ein Zug, den ich an den Iren auffallend bemerkt habe, ist ein gewisser Geist des Patriotismus und des öffentlichen Besten, zu dem sie mit Vergnügen beitragen. Sie haben diesen Zug, so wie das Mitleiden, vielleicht noch stärker, als die Engländer.

Gegen Fremde sind sie gewiß gefälliger und zuvorkommender als die Engländer, wie wohl auch diese, von dieser Seite, viel erträglicher sind, als sie sonst gewesen seyn sollen. Die Iren waren sonst der Hospitalität wegen noch berühmter als jezt. Dieser Zug nimmt bey den Nationen gewöhnlich ab, indem die Cultur zunimmt. Das, was in gewissen französischen und deutschen Häusern Hospitalität heißt, ist mehr ein Schaugericht, das der Hausherr sich selbst zu Ehren ausstellt.

Einen Hang zur Unthätigkeit hab ich, wenn ich nicht irre, den Iren schon weiter oben zur Last gelegt. Ich kenne deren manche, die lieber den ganzen Tag in Unthätigkeit herum ziehen, als ein Buch öffnen oder eine Zeile schreiben.

Da fast in allen Schriften über Irland von White-Boys (Weiße-Buben) die Rede ist, so werden Sie wohl auch über diesen Artikel etwas erwarten, um so mehr, da man durchgehends


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so davon geschrieben hat, als wenn sie noch existirten. Twiß sagt: ‘Die Grafschaften Waterford, Tipperary, Wexford etc. etc. sind mit Bösewichtern überschwemmt, die, wegen ihrer Menge, in vielen Jahren nicht ausgerottet werden können.’ In der That waren sie schon damals, als Twiß dieses schrieb, so gut als vertilgt. Es waren Landleute, die sich in der Nacht verkleideten, indem sie ihre Hemden über den Kopf zogen (woher sie auch den Namen Weiße-Buben, haben,) und heerweise auszogen, um sich an ihren Feinden zu rächen. Ihre Feinde aber waren reiche Güterbesitzer, die etwan den Pacht erhöhen wollten; Obrigkeitliche Personen, von denen sie etwan waren gestraft worden; Zoll-Bediente etc. etc. Sie machten ihre Expeditionen gewöhnlich zu Pferde, fielen bewaffnet in die Häuser und verübten oft entsetzliche Grausamkeiten. Sie raubten nicht; wohl aber aßen und tranken sie, so viel sie konnten, zerbrachen alles, was in einem Hause zerbrechlich ist, ließen die Wein- und Bierfässer auslaufen, etc. etc. Wer nicht ihr Feind war, hatte nichts zu fürchten, und konnte ihnen, so wohl als die Reisenden, ohne alle Gefahr auf der Straße begegnen. Der Haß zwischen Katholiken und Protestanten mag nicht wenig zu dieser Wirthschaft beygetragen haben. Man schickte sonst die Truppen gegen sie, und wenn man einen White-Boy fing,

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so wurde er gehangen. Durch Strenge, und vielleicht auch durch Verbesserung der Sitten nahmen sie nach und nach ab; und seit der Errichtung der Volunteers, die nun im ganzen Lande herum wohnen, ist ihre Existenz ganz unmöglich gemacht. Indessen erhielt sich noch nachher der Name; und wenn irgendwo liederliche Leute nächtliche Ausschweifungen begingen, so nannte man sie White-Boys.