Corpus of Electronic Texts Edition
Briefe aus Irland nach Sachsen (Author: Carl Gottlob Küttner)

Brief 16

C***, den 1. Sept.

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Die Welt gehört hier zu Lande den Reichen und Großen! — So hab ich schon unzähligemal bey mir selbst ausgerufen: Und ob schon dieser Satz so ziemlich in den mehresten Ländern wahr ist, so hab ich ihn doch nirgends so auffallend gesehen, als hier. Die Großen und Reichen haben hier ungeheure Striche Landes, und diejenigen, die es bauen, leben in der äussersten Armut. Wer einen Estate d. h. ein Gut, oder einen Strich Landes hat, verpachtet einen Theil davon an einen Landwirth oder Pachter, der gewöhnlich schon ein gewisses Vermögen hat. Dieser wird öfters sehr reich, kauft sich eigene Güter, und lebt auf den Fuß eines Gentleman, erzieht seine Kinder dem zu Folge, und wird manchmal mit der Zeit ein Parlements-Glied. Die größern


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Pachter theilen das Land in kleine Stücke und verpachten diese wieder an Arme, welche denn auf diesem Stückgen Lande in einer elenden Hütte leben. Wer einen großen Estate hat, hat oft mehrere Pachter, denen er den größten Theil seiner Länder überläßt, und das, was ihm noch übrig bleibt, verpachtet er selbst, in kleinen Stücken, an jene armen Landleute, von denen ich geredet. Dieses ist, mehr oder weniger der allgemeine Gang, und das in England so wohl als in Irland, nur mit dem Unterschiede, daß in jenem der gemeine Landmann sich viel besser befindet, als in diesem.

Hier läßt Lord T** fast alles, was im Parke liegt, durch eigene Leute besorgen, an deren Spitze ein Pachter steht, der sein Haus mit vielen Nebengebäuden im Parke hat. Das Übrige ist theils in größern, theils in kleinern Stücken verpachtet, zum Theil an Arme, die der Lord nie zu sehen bekommt, und die er nicht kennt, weil alles durch einen Intendanten besorgt wird.

Ich bin mit Fleiß in verschiedene dieser Hütten gegangen, die auf diesen weitläufigen Gütern zerstreut liegen. Denken Sie sich eine niedrige Mauer von Leim {Lehm} ins Gevierte, oben mit dünnen Balken belegt, welche mit Stroh


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behangen sind: so haben Sie die ganze Wohnung des größten Theils der niedern Landleute. Der Boden ist in diesen Hütten manchmal mit Steinen belegt, gewöhnlicher aber ists die bloße Erde. Äusserst selten ist in diesen kleinen, engen Hütten eine Abtheilung; die ganze Hütte macht gewöhnlich nur ein Zimmer aus, in welchem die ganze Familie wohnt, schläft, kocht, sich wärmet, und alles ihr Hausgeräthe hat. Ein kleines Fenster, theils mit Glas, theils mit Papier versehen, gibt weniger Licht, als die Öfnung der Thüre, welche man gewöhnlich offen läßt. Über der Stelle, wo das Feuer gehalten wird, ist in manchen dieser Hütten ein gemauerter Schornstein; in vielen aber gar nichts, und da mag der Rauch selbst sehen, was er für einen Weg findet, den er denn gewöhnlich zur Thüre hinaus nimmt, wenn er die Öfnungen im Dache, die nicht selten sind, nicht groß genug findet. Dieses ganze Gemälde ist nach der Natur, und keineswegs übertrieben.

Nebengebäude gibts keine; denn da das Klima äusserst mild ist, so lebt alles Vieh, Sommer und Winter, unter freiem Himmel. Wird irgend eins krank, nun so nimmt man es ins Haus. Das Heu wird in großen Schobern aufgehäuft und bleibt unter freiem


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Himmel. Der Getraidebau scheint blos von den reichern Pachtern getrieben zu werden.

Auf diese Art lebt hier der niedere Landmann, geht barfuß, wenig und schlecht bekleidet, und nährt sich mit Erdäpfeln, Käse und Milch. Mit dem, was er von seiner Viehzucht gewinnt, bezahlt er den Pacht, und das Übrige vertrinkt er in Whisky, einer Art Kornbrandtewein. Bey dem allen ist er nichts weniger als unglücklich. Im Gegentheil, seine Lage schient ihm zu behagen: er ist unthätig und gibt sich nicht die geringste Mühe, durch bessere Anbauung des Landes seinen Zustand zu verbessern. Den Neid kennt er nicht; denn seine Nachbarn leben wie er, und die Reichen liegen zu sehr außer seinem Kreise, als daß er an sie hinauf denken sollte. Er schlendert ganz gelassen durch den schönen Park des reichen Güterbesitzers und denkt an keine Vergleichung.

Überhaupt ist es eine allgemeine Bemerkung, daß der eingeschränkte Mensch, (und vielleicht die mehresten Menschen überhaupt) selten weit über seinen Stand hinausschaut. Unser Nachbar, unser Bekannter erregt unsern Neid, nicht der Fürst und die Großen der Erde, die der gewöhnliche Mensch mehrentheils als ganz ausser seinem Kreise betrachtet. Ein guter,


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wohlhabender Bürger wird sich nicht leicht einen Pallast, Kutschen und viele Pferde, und ein Heer von Bediensteten wünschen; wohl aber die bessere Tafel und das bequemere Haus seines Nachbars, und vielleicht den Bedienten und das Reitpferd oder Cabriol eines andern.

Der Anblick und der ganze Zustand dieser armseligen Menschen, von einer andern Seite betrachtet, gibt mir oft Veranlassung, eine Vergleichung zwischen ihnen und den Großen des Landes, unter denen sie leben, anzustellen, und ich finde aufs Neue die Bemerkung bestätigt, die ich seit der Zeit in mir herumtrage, seitdem ich viele der glänzenden Classen des Lebens gesehen habe.

Ich weiß nicht, warum ein grosser Theil unserer Gottesgelehrten in allem, was ihnen vorkommt, ohne Unterlaß auf eine andere Welt verweisen! Reichthum und Armuth, anscheinendes Glück, Ungerechtigkeit auf der einen, und Duldung auf der andern Seite, Beraubung und Genuß — alles, alles soll in jener Welt gleichgemacht, compensirt werden. Daß ist alles wahr, und ist auch ein ganz kurzer Weg den Knoten aufzulösen. Allein ich glaube, daß wenn wir die Dinge dieser Welt genau betrachten, wenn wir Gelegenheit haben, uns in allen den verschiedenen Ständen des


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menschlichen Lebens umzusehen, so werden wir finden, daß schon hier in dieser Welt unendlich mehr Compensation ist, als man insgemein glaubt, d.h. daß der Antheil von Glück und Unglück, von Lust und Unlust, der einem jeden hienieden zugemessen ist, freilich nicht ganz gleich ist — wohl aber einander so ziemlich nahe kommt.

Ich habe mancherley Betrachtungen darüber angestellt, wenn ich auf den weitläuftigen Gütern des Grafen spazieren reite, oder fahre, und die Menge von elenden, oft nur halb gekleideten Menschen sehe, die mit entblößtem Haupte da stehen, wenn der glänzende Wagen, oder das stolze Pferd, vor ihnen dahin fliegt. Welch ein Unterschied! Die einen leben im äussersten Überflusse, wohnen in prächtigen Sälen, kleiden sich in die besten Stoffe, raffiniren über ihre Tafel, und setzen die vier Welttheile in Contribution, um ihren Sinnen zu schmeicheln. Den andern fehlt es an allem; sie nähren sich mit Erdäpfeln und Buttermilch, oder mit bloßem Wasser; denn oft können sie die letzte nicht erschwingen. Und doch bin ich fest überzeugt, daß unter diesen Elenden mancher ist, der wahrhaft glücklicher ist, als irgend jemand von uns.

Mangel und Bedürfniß sind ein Wort, die Sache selbst existirt blos durch Vergleichung, und


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wir kennen weder die eine, noch den andern, so lange wir sie nicht wirklich fühlen. Derjenige aber fühlt sie nicht, der sich mit dem begnügt, was er hat, nie aus seiner Sphäre tritt, sein Schlendrian-Leben einen Tag wie den andern fortführt, oder das, was er hat wahrhaft genießt. Diese Disposition aber findet man in den niedrigsten Ständen eher, als in irgend einem andern. Die eingeschränkte Seele ist der feinern Eindrücke unfähig, jedes Raffinement ist ihr fremd, und von tausend Dingen, die uns unglücklich machen, hat sie nicht einmal einen Begriff. So ein Mensch arbeitet seinen Tag weg, und denkt an wenig anders, als an das, was er gerade macht. Seine Einbildungskraft ruht unthätig, und wenn er des Abends nach Hause kömmt, schmecken ihm seine Erdäpfel weit besser, als mir das auf Silber angerichtete Nachtessen, zu dem ich keinen Appetit habe. Sein Schlaf ist ruhig, heiter und erquickend, denn er hat sich nicht überessen, und seine Seele, die nicht, wie die meinige, rege ist, erhitzt seinen Körper nicht. Sein Leben ist gewissermassen thierisch, aber er ist nicht unglücklich. Er hat wenig Genuß von Seiten feiner Seelen-Kräfte; aber tausend Dinge, durch die unser feineres Gewebe duldet und abgenagt wird, machen auf ihn nicht den geringsten Eindruck. Ist er so glücklich, seine Erdäpfel noch mit einer andern Schüssel zu

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vermehren, so hat er etwas, das der Reiche und der Große sich nie verschaffen kann; letzterer hat in seinen Vorraths-Kammern alles, was er wünscht, folglich hat er kein Verlangen zu befriedigen.

Daß dieser Elende nicht auch manche wahre Leiden haben sollte, ist freilich nicht zu vermuthen; auch sey der Gedanke ferne von mir, daß irgend jemand mit ihnen würde tauschen wollen. Ich wollte blos sagen, daß zwischen diesem Elenden und dem, den ein anderer beneidet, kein so ungeheurer Unterschied sey, so bald man wahre Glückseligkeit und Leiden gegen einander abwiegt.

Der Irische Landmann darf keinesweges, zur Entschuldigung seiner Trägheit vorschützen, daß das Land, das er baut, nicht sein eigen ist. Diese Entschuldigung fällt weg, sobald man weiß, daß die Pachte auf dreyßig, vierzig, funfzig, ja auf hundert Jahre geschlossen werden. Man hat mich versichert, daß der Englische Herzog von Devonshire Pachter hat, die seit mehr als zweyhundert Jahren auf seinen Gütern leben; und, was noch mehr erstaunenswürdig ist, er hat den Pacht-Contrakt nicht geändert; wenigstens war es so vor einer gewissen Anzahl von Jahren. Man gab ihm da 50,00 Pf. aus Gütern, aus denen er 80,000 hätte ziehen können. Manche Englische Familien zeigen hierinnen einen


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besonderen Stolz und Größe. — In Irland findet dieses, wegen der heftigen Revolutionen, die das Land erlitten, nicht statt. So galten z. E. die Güter in dem Kriege zwischen Jakob II. und Wilhelm III. gar nichts, und die Güterbesitzer verpachteten sie auf viele, viele Jahre, blos um gegenwärtig etwas Sicheres dafür zu bekommen.

Auf einem Spazierritte zeigte mir ein Gutsbesitzer ein großes Stück Land, und sagte: ‘In zwey Jahren denk' ich dieses für 400 Pf. zu verpachten, gegenwärtig bekomme ich jährlich nicht mehr als zehn dafür, weil mein Großvater es auf neunzig Jahre verpachtet hat. Die Familie, die es gepachtet hat, ist seitdem reich dadurch geworden, lebt nun auf eigenen Gütern in einem großen, schönen Hause, und hat diesen Strich Landes an eine Menge armer Leute verpachtet.’

Ich erinnere mich nur kürzlich gelesen zu haben: The distribution of property in Ireland is more unequal than in England or America.16 Schon in England haben die Reichen zu viel liegende Gründe, und die Armen zu wenig, und in Irland ist der Unterschied noch viel auffallender. Ich glaube nicht, daß es in Sachsen eine Familie gibt, die jährlich 4,000 Pf.


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(24,000 Rthl.) hat: in Irland ist das eine Kleinigkeit, die mancher besitzt, der nicht einmal einen Titel hat, und der, nach unsrer Art zu reden, nicht einmal zum kleinen Adel gehört. Und doch ist auch das noch nichts, wenn ich es gegen England halte, wo es unzählige Familien gibt, die jährlich von 4 bis 10,000 Pf. Einkünfte haben. Aber dafür gibt es auch in England unzählige Kaufleute. Kein Land in der Welt hat verhältnismäßig so viel Fabriken, und selbst der gemeine Mann ist theils reich, theils wohlhabend. Auf diese Art balancirt sich das, und der Kaufmann und die übrigen niedern Stände sind, gegen die reichen Güterbesitzer (Lords of the Manor) doch nicht arm. In Irland hingegen hat der Güterbesitzer alles.

Nach allem, was ich Ihnen nun vom Landbau und den niedern Landleuten in Irland gesagt habe, müssen Sie doch nicht glauben, daß dies der Zustand des ganzen Landes, ohne Ausnahme, ist. Nein, im Norden sieht es um ein gutes besser aus. Die Ursache ist in der Geschichte zu finden. Durch die Kriege, welche Elisabeth, und ihr Nachfolger, Jakob I. gegen die katholischen Iren führten, fielen der Krone 511,465 acres Land anheim, in den Grafschaften Donnegal, Tyrone, Colerain, Fermanagh, Carvan {Cavan} und Armagh. Die Papisten wurden größtentheils


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aus diesen Provinzen vertrieben, und dieser katholische und äusserst unruhige Theil von Irland, ward vom Hofe größtentheils mit Protestanten besetzt, welche mehr Industrie hatten, und durch welche der einzige Zweig des Irischen Handels, der ansehnliche Summen ins Land bringt, ich nenne die Linnenmanufakturen, hauptsächlich getrieben wird.