Corpus of Electronic Texts Edition
Briefe aus Irland nach Sachsen (Author: Carl Gottlob Küttner)

Brief 5

C***, den 2. Jul.

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Meine Lebensart und meine ganze Lage ist noch vollkommen die, die ich Ihnen in meinem letzten Briefe ausführlich beschrieben habe, nur mit dem Unterschiede, daß ich jezt weit mehr an den Irischen Accent gewöhnt bin. Mit dem Lande umher bin ich auch bekannter geworden, und den Park finde ich immer schöner, je länger ich hier bin. Ohne Unterlaß entdecke ich etwas Neues und Anziehendes, oder ich komme der Kunst auf ihre Spur, in Partien, wo ich zeither blos Natur ahndete. Wenn die Kunst so fein versteckt ist,


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so versichere ich Sie, lieber Freund, daß sie sehr liebenswürdig ist, zumal wenn alles so sehr ins Große geht, wie hier. Die Spaziergänge am Clogher oder Clodagh {Clodiagh}, einem kleinen Fluße, der durch den Park geht, und bald frey und offen fließt, bald von Bäumen umschattet ist, bald sanft in der Ebene schleicht, halb zwischen Berge sich drängt, und über Steine rauscht — sind unbeschreiblich angenehm. Das Ganze ist so romantisch, und so ganz für ein fühlend Herz gemacht, daß ich wenig Orte kenne, die angenehmer in Phantasien wiegen oder die Einbildungskraft mehr zur Schwärmerey reizen könnten. Ich fühle, daß dies alles unendlich schön ist5, und daß ich glücklich bin, darinnen wandeln zu können, und daß überhaupt mein gutes Schicksal mich seit so vielen Jahren immer in reizende Gegenden setzte.

Je mehr ich das Land umher kennen lerne, desto mehr Ähnlichkeit finde dich zwischen ihm und gewissen Gegenden in der Schweiz und am Rhein. So gleicht z. B. der Sure von hier bis ans Meer ganz außerordentlich dem Rheine, und seine Krümmungen sind sogar noch schöner. Ein Stunde von hier hat das Landhaus, wo ich öfters bin, eine schönere Lage an diesem Fluße, als die irgend eines Landhauses, das ich am Rheine kenne. Erst vor einigen Tagen speißte ich da,


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und besahe die ganze Gegend umher in dem Augenblicke, in dem die Fluth am höchsten war. (Und da war der Fluß ziemlich zweymal so breit, als der Rhein bey Basel ist.) Eine völlige Rheingegend! Nur der mildthätige Weingott vernachläßigte dieses Land, sonst alles das nämliche, besonders jenseits, wo ich wegen der Entfernung den Mangel des Details nicht gewahr werden konnte. Das Steigen der Fluth, und hernach die Menge Fahrzeuge, die mit der fallenden Fluth hinab fahren, gab der Aussicht noch etwas vorzüglich Anziehendes. Ich besahe das Ganze mit Freude, Antheil und Rührung.