Corpus of Electronic Texts Edition
Eine Variante der Brendan-Legende (Author: Rudolf Thurneysen)

section 5

Nachdem Brenainn diese Qualen gesehen hatte, hörte er gewaltiges, unerträgliches, nicht auszuhaltendes Wehgeschrei und trauriges, jämmerliches Weinen und unausstehlichen Klageruf in der Tiefe des unteren Teiles der Hölle. Da ergriff den Kleriker Angst bei der Furchtbarkeit dieses Elends. Da sah Brenainn einen großen Fels; auf diesem war, was er hörte. Und das höllische


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Meer kam von jeder Seite über den Felsen, nämlich eine Welle von schwarzrotem Feuer von vorn über ihn und das andere Mal eine kalte eisige Welle von hinten. Dort stand ein einzelner elender Mann auf dem Felsen. Brenainn fragte ihn, wer er sei. ‘Judas Ischarioth bin ich’ sagte er, ‘und ich bin es, der seinen Herrn verkauft hat für Silber und für verächtlichen, wertlosen Reichtum der Welt, d. i. Jesum Christum, den Sohn des lebendigen Gottes. Und gewaltig’ sagte er, ‘ist die Menge meiner mannigfaltigen Qualen. Und wie du mich siehst, werd ich sein von heute bis zum jüngsten Gericht.’ Da weinte Brenainn bei der Größe des Elends, in dem er Judas sah. Da machte der dieses kurze Gedicht, indem er Brenainn seine Pein erwähnte:

‘Judas Ischarioth bin ich heute auf den Wogen der mächtigen See. Elend ist mein gefahrvolles, düsteres Leben, da ich in der Hölle gepeinigt werde.’

‘Von der Feuerwoge auf die kalte Woge, von der kalten Woge auf jede mächtige Woge, gepeinigt von jeder Seite: ein elender Ruf ist, daß ich in der Pein bin.’

‘Weh mir, daß ich meinen König verlassen habe! Schlimm war die Tat, an die ich Hand legte. So wird man darum in Ewigkeit ohne Frieden und ohne die Milde der Ruhe sein.’

‘Je zur einen Stunde der untere Teil der Hölle; elend ist der
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5 der an meiner Seite ist. Schwarze Teufel sind in meiner Gesellschaft; ach über ihr Gesetz,6 keine liebliche Bildung!’

‘Weh dem, der es getan hat, weh dem, der es tut, weh seiner Wanderung in dieser Welt! Der habsüchtig ist über das Glück hinaus, zweimal weh ihm und wehe, o Gott!’

‘Weh mir! meine Habsucht hat mich ertränkt; rohe Teufel seh ich je nach der Stunde. Weh um meine Fahrt zu ihnen, o Gott! Weh dem, was in mein hartes Gewissen kam!’

‘Ach Brenainn, seht mich an! Alles, was ich tue, bringt mir nur mehr. Die unselige, gemeine, schwarze, blinde Hölle, ach darin leb ich!’

‘Ach, ach! der Lohn für den Verrat an meinem König, lange, lange werd ich seine bösen Folgen tragen. Dreißig Reifen von weißem Silber, das hat meinen Leib verunglimpft.’


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‘Für Reichtum hab ich meinen König hingegeben; ach, dadurch ist mein Geschick schlimm. Der Reichtum bleibt nicht zu meiner Verfügung: ich bleibe in der Pein in Ewigkeit.’

‘Ach, daß ich nicht tot bin, o Sohn meines Gottes! Ach, daß ich in rauher Weise Kampf finde. Ach, daß ich in Flammen stehend nicht wie (Hunderte (?))7 den Tod finde, sondern lebe.’

‘Krumme Würmer sind an meinem Leibe, schwarze, braune; elend ist der Kampf! Jagdgeschrei je zur anderen Stunde; elend sind die Hetzen, die mich treffen.’

‘Ach, Silber! wehe deiner Tat! Ach, du brachtest mich unter mein
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8 Ach, lügnerischer bleicher Reichtum, ach, Plage hast du bewirkt.’

‘Zusammen mit Teufeln bin ich, ach!
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9 schlimm ist meine Art. Durch Übermut habe ich meine Schönheit verwandelt: Judas Ischarioth bin ich.’